Kommunikationsstrategie-Leifaden „Überidentifikation“

Worum geht’s bei der Aktions- & Kommunikationsform

Bei dieser Aktions- oder eher Kommunikationsform geht es darum, das genaue GEGENTEIL von dem, was Mensch denkt, fordert oder unterstützt, völlig überspitzt zu vertreten. Zunächst scheinbar harmlos setzt Mensch sich für das Thema ein, das Mensch eigentlich bekämpft und deckt durch die Überidentifikation die Probleme auf.
Am Anfang stimmen einem die Menschen zu, doch nach und nach zweifeln sie auch und sprechen sich gegen die Position aus, die ihr scheinbar vertretet.

Beispiel:

Normalerweise setzt sich der Tierrechtler Franz gegen das Fleischessen ein und argumentiert nach allen Regeln der Kunst gegen die Fleischindustrie und den Fleischkonsum, doch immer wieder begegnet er Menschen, die weder ethische noch umwelttechnische oder andere Gründe überzeugen können.
Franz wechselt die Taktik. Als das nächste Mal jemand seine Freundin Claudia darauf anspricht, warum sie kein Fleisch esse, springt Franz ein. Entgegen seiner eigentlichen Überzeugung gibt er dem/der Kritiker/in Recht. Aber er geht weiter. Seiner Meinung nach gingen auch die Tierhaltungsverordnungen viel zu weit. Es sei doch völlig egal, wie die Tiere gehalten würden. Auch der Bolzenschuss beim Schlachten sei seiner Meinung nach überflüssig. Er kaufe gerne das Fleisch aus der Massentierhaltung, denn ob das Schwein zuvor von Artgenossen angefressen worden sei, Tumore gehabt und im Kot gelegen habe oder zuletzt sogar bei lebendigem Leib gehäutet worden sei, sehe Mensch ja dem Schnitzel nicht an, aber im Preis mache es sich doch bemerkbar.
Nach und nach wundert sich der/die Kritiker/in und fängt an Franz nicht mehr zu unterstützen. Auf einmal besteht auch er/sie auf Tierschutzregelungen und schlägt sich sogar auf Claudias Seite. Er beginnt zu erkennen, dass die Einstellung, die Franz vertritt, unmoralisch ist und er solche Zustände nicht unterstützen möchte.
Ehe Franz sich versieht, hat sich der/die Kritiker/in auf Claudias Seite gestellt und greift auf Argumente zurück, die eigentlich Franz sonst immer selbst nutzt. Unterstützt wird das ganze von Claudia, die natürlich die passenden Hintergrundinfos parat hat und sich mit dem eigentlichen Kritiker zusammenschließen kann, um die völlig übertriebenen Forderungen von Franz zu zerstreuen. Dadurch identifiziert sich der/die eigentliche Kritiker/in mit der Meinung von Claudia und tada: der/die Kritiker/in ist gar kein/e Kritiker/in mehr, sondern hat sich Claudias Position stark angenähert.

Oder anders gesagt…

„Überidentifikation (auch Überidentifizierung) ist eine als Protestform angewandte Kommunikationsstrategie. Sie wird genutzt, um die eigentlichen Ziele der Gegenseite zu verzerren. Dabei identifiziert man sich scheinbar mit den Zielen der Gegenseite, die aber durch die Darstellung in ihrer extremen Form als gänzlich unannehmbar, lächerlich oder absurd dargestellt werden. Der Vorteil von Überidentifikation liegt darin, dass der Anwender nicht direkt als Gegner erkannt wird. Er tarnt sich mit den Zielen der Gegenseite und bringt diese durch (legale) Übertreibung in Verruf.
Während Protestler und Provokateure sehr schnell isoliert und entfernt werden können oder als Gegner einfach überhört werden, kann jemand, der sich der Überidentifikation bedient, nur schwer erkannt werden und der von ihm verursachte Schaden kann im Endeffekt höher sein als der herkömmlichen Protests. Er wirkt sich in manchen Formen sogar auf das gesamte Bild der Gegenseite aus.“

http://de.wikipedia.org/wiki/Überidentifikation

Die beste Inszenierung…

… bekommt Mensch, wenn ein/e Vertreter/in eurer eigentlichen Position eine/n (gefälschte/n) Gegner/in eurer Position und dem/der Kritiker/in begegnen.
So wird sich der/die Kritiker/in nach und nach mit dem/der Verteidiger/in eurer Position gegen den gefälschten Gegner zusammenschließen und die Argumente eurer eigentlichen Position selber aufgreifen. Im Rahmen von größeren Aktionen ist es manchmal sehr schwer, eure eigentliche und eure gefälschte Position auf einmal zu vertreten. Hier müsst ihr unter Umständen auf eure eigentliche Position verzichten. Das hat den Nachteil, dass der/die Kritiker/in nicht einfach den Argumenten eurer eigentlichen Position beipflichten kann, sondern von sich aus gegenargumentieren muss. Wenn ihr eure gefälschte Position aber entsprechend übertrieben vertretet, sollte es für den Normalbürger jedoch kein Problem sein, Gegenargumente zu finden.
Es gilt immer der Grundsatz: Zu stark Übertreiben gibt es nicht. So lange ihr nicht beleidigend werdet, ist alles erlaubt. Vertretet die radikalsten, egoistischsten Thesen, greift auf die dümmsten Argumente zurück und versucht bei eurem Gegenüber einen möglichst unsympathischen Eindruck zu machen. Alles was ihr jetzt los lasst, wird der/die Kritiker/in automatisch mit eurer gefälschten Position in Verbindung bringen und das soll ja nichts Positives sein. Am besten ihr begründet eure Thesen immer so, dass negative Charaktereigenschaften präsentiert werden (Profitgier, Egoismus, Eitelkeit, Luxusgier, Intoleranz). Und denkt daran, dass ihr kein Interesse daran habt, einen Kompromiss zwischen eurer gefälschten Position und der, die euer Gegenüber mit der Zeit einnimmt, zu finden. Ihr präsentiert nur eure gefälschte Meinung und rückt von dieser keinen Millimeter ab. Und immer schön übertreiben ;-)

Wo ist die Kommunikationsform angebracht

Diese Kommunikationsform ist eigentlich für jedes erdenkliche Thema anwendbar, d. h. nicht nur im Tierrechtsbereich! Eingesetzt werden kann es bei absolut jeder Protestform. Vom einfachen Gespräch bis hin zu großen Demos ist alles möglich.

Beispiele:

Pelz: Für kostengünstige Lebendhäutungen und Abschaffung der Haltungsvorschriften. Luxus muss bezahlbar werden.
Menschenrechte: Für die Subventionierung von Kinderarbeit in den Entwicklungsländern. Europa braucht billige Waren.

Was ist dabei zu beachten

Wichtig ist nur, dass ihr eure Forderungen so stark übertreib, dass sie wirklich unannehmbar sind. Es gibt kein zu starkes Übertreiben. Falls ihr nicht stark genug übertreibt, riskiert ihr noch, dass eure Position plötzlich ernst genommen wird. Also stellt absurde Forderungen und präsentiert eure gefälschte Position möglichst negativ.

Aufbau und Durchführung bei Aktionen

Diese Kommunikationsform kann Mensch leicht auch in eine Aktionsform umwandeln! Wichtig ist nur, dass alle Teilnehmer/*innen Bescheid wissen, um was genau es geht. Ihr solltet vor der Aktion unbedingt ein Treffen abhalten, bei dem alle Personen anwesend sind, die später auch bei der Durchführung beteiligt sind. Jede/r muss Bescheid wissen, wie das Aktionskonzept genau funktioniert. Ansonsten riskiert ihr, dass die ganze Sache in die Hose geht.

Hier zwei Beispiele, die so stattgefunden haben:

(Quelle: www.projektwerkstatt.de/hoppetosse/dan/probundi_demo.htm)
1. Dörfliche Initiative für Heide und Sicherheit
Am 1. August fand am geplanten „Bombodrom“ eine skurrile Demo statt. Angemeldet war sie von einer „Dörflichen Initiative für Heide und Sicherheit“, die sich als Unterstützer/in des militärischen Bomben-Übungsplatzes zeigte. Das Fake, tatsächlich aus dem Aktionscamp gegen den Bombenabwurfplatz heraus organisiert, irritierte in der Region und vor allem in der Presse mächtig. Die Demo selbst war ziemlich bunt, schrill und kleidet, mit blutigen Verbänden und total bekloppten Schildern vom Fronttranspi „Bombt die Karnickel aus der Heide!“ bis zu „Deutsche Kolonien in allen Ölstaaten!“. Unterwegs gab es Lieder und Parolen wie „Osama bin Laden ist überall, jagen wir ihn mit Überschall“. Die Lokalpresse erschien vor Ort. Jedoch gelang es ihr nicht, das Ganze zu durchschauen.
2. Kameragottesdienst in Gießen
Um die neue Überwachungskamera zum Gesprächsthema zu machen, lud die „Initiative Sicheres Gießen“ zu einem Dankgottesdienst an der neuen Überwachungstechnologie. Ein skurriler Auftritt fand statt, bei dem die eintreffende Polizei als Propheten des Sicherheitsgottes angebetet und mit Weihrauch überschüttet wurde (und genervt abhaute). Dieser Auftritt wurde dann im Karstadt unter den Kameras wiederholt (ebenfalls ungestört). Eine Wochenzeitung in Gießen war so blöd, dass sie sogar Fotos von dem Geschehen machte, aber am nächsten Tag auf der Titelseite ganz ernst berichtete.

Vorteile und Risiken

Vorteil Risiko
finanziell: Günstig & einfach
personell: ab. 2 Personen —-
organisatorisch: Geringer Aufwand und ein echter Hinhörer/Hingucker Möglicherweise werden die Leute euch den Quatsch sogar glauben.

Rechtliche Risiken

Solange eure Aktionen angemeldet sind und ihr keine Lügen verbreitet, beleidigend oder handgreiflich werdet, Sachbeschädigung betreibt, volksverhetzend o. ä. seid, sollte es kaum Risiken geben.